Geronimo. Roman.
Leon de Winter, Diogenes 2016
Blindgänger
Was hat Leon de Winter früher für Romane geschrieben - "Hoffmanns Hunger", "Solokows Universum" oder "Malibu", selbst das unglücklich betitelte "SuperTex": Gute, kluge, einfallsreiche, melodiöse Texte, fein skizzierte Figuren, Dramaturgie und Dramatik ganz ohne Effekthascherei. Der niederländische Autor schaffte es zwar nie, die Fußstapfen großer Kollegen wie beispielsweise Cees Nooteboom oder Harry Mulisch auszufüllen, etablierte sich aber literarisch in deren unmittelbarer Nähe. Dann, so um das Jahr 2008 herum, erfolgte eine etwas irritierende thematische Fokussierung: Leon de Winter begann damit, ausschließlich Romane über den Terror zu schreiben, angefangen mit "Das Recht auf Rückkehr" (2009) über "Ein gutes Herz" (2013) bis hin zum aktuellen "Geronimo". Um es kurz zu machen: Diese Entscheidung war keine glückliche. Das Thema mag ihn sehr bewegen (wem ginge das nicht so?), die künstlerische Aufarbeitung jedoch scheitert gründlich. Die Romane sind mäßig provokant, kaum erhellend, intellektuell fragwürdig und erzählerisch lupenreine Niederlagen. Wenn man so will, gehört de Winters Kunst zu den Opfern des Terrorismus'.
Im Mai 2011 verkündeten US-Soldaten "Geronimo - EKIA". Geronimo, eigentlich der Name eines legendären Indianerhäuptlings, war der Codename des Al-Qaida-Chefs Osama bin Laden, EKIA die Abkürzung für "Enemey killed in action" - Feind im Kampf getötet. Es ging um die "Operation Neptune's Spear", im Rahmen derer Spezialeinheiten ein Haus im pakistanischen Abbottabad stürmten und den darin befindlichen bin Laden töteten, was anschließend von der Welt und vor allem der US-Regierung gefeiert wurde. Soweit die offizielle Version.
Leon de Winter erzählt die inoffizielle - aus der Sicht des ehemaligen US-Agenten Tom, der bei einer bierseligen Grillparty Wind von der bevorstehenden Aktion bekommt und sozusagen daran beteiligt ist, die Spezialtruppe dazu zu überreden, statt des von der US-Regierung gewünschten "kill or capture" (töten oder fangen) nur ein "capture" zu versuchen, was auch tatsächlich gelingt. Im Gegensatz zur offiziellen Darstellung wird bin Laden gefangengenommen und heimlich verschleppt. Ein kleiner Christenjunge, der in unmittelbarer Nähe des Anwesens wohnt, klaut gleich im Anschluss als Souvenir einen Hocker aus dem Haus, außerdem freundet er sich mit einem Bettlermädchen an, das von bin Laden regelmäßig auf dessen Mopedtouren durch das nächtliche Abbottabad mitgenommen wurde, weil der Terroristenführer nikotinsüchtig war und es im beengten Haus nicht aushielt. Die Bettlerin kennt einen Teil jenes Geheimnisses, das sich in Osamas Besitz befand und angeblich geeignet war, den amerikanischen Präsidenten in äußerste Schwierigkeiten zu bringen. Ohne es zu wissen, ist der kleine Christenjunge nun im Besitz dieses Geheimnisses. Und das Bettlermädchen wohnte früher für eine gewisse Zeit auf einem Stützpunkt, auf dem auch der US-Agent Tom stationiert war, der seine zwei Jahre alte Tochter bei den Madrider Anschlägen 2004 verloren hat, weshalb er sich um die kleine, talentierte Muslimin kümmerte.
Jede Menge Zufälle, ein ganzer Haufen Verschwörungstheorien, ein gerüttelt Maß an Islam-Bashing und eine offenkundige Zuneigung fürs Militär (und - leider - auch für ... Aktivitäten, die keiner Menschenrechtscharta entsprechen) prägen diesen Roman, der aber vor allem strukturell ein Blindgänger ist. Eingeklammert zwischen zwei lange Telefondialoge, die der Erzähler Tom mit seiner Exfrau führt, die wie er selbst durch den Tod der Tochter traumatisiert ist, springt de Winter in kurzen Abschnitten zwischen seinen Figuren, findet keine stilistische Linie und ertränkt den zwar unglaublich detail- und informationsreichen, aber sehr sterilen Text in einem wirren, äußerst unlogischen Durcheinander, in dem Briten, Amerikaner, Niederländer, Israelis, Afghanen, Pakistaner, Tadschiken und Saudi-Arabier einander die Klinke in die Hand geben, ohne auch nur einen Schritt voranzukommen. Am Ende sind ziemlich viele Figuren tot, ein Erkenntnisgewinn ist nicht auszumachen - und spannend war's auch eher nicht. Dafür ein bisschen peinlich, irgendwie unangenehm (wer will schon Privates über einen Menschenfeind und Massenmörder erfahren, und sei es auch nur erfunden?) und sehr, sehr tendentiös. De Winter übt sich in lauter Disziplinen, die andere besser beherrschen: Thriller, Provokation, Religionsvergleich. Schade, denn das andere, das er leider aufgegeben hat, beherrschte er fast meisterlich.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99
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